Dieses Interview mit Gina Hardebeck führte Philipp Scherber für die dritte Ausgabe des Magazins Corporate Newsroom, das im Mai 2020 erschienen ist und kostenlos zum Download zur Verfügung steht.

Hardebeck Gina
Die Sinologin & ausgebildete Journalistin Gina Hardebeck ist Expertin für Marketing in China und für chinesische Kunden. Bis April 2020 leitete sie bei der Kommunikationsagentur Storymaker den Bereich Vertrieb innerhalb der Geschäftsführung. Anschließend gründete sie mit Storymaker (Beijing) die erste deutsche PR-Agentur in China. Seit 2021 leitet sie Marketing und Kommunikation bei der Bahnhof-Apotheke Kempten und Pur Natur.

China-Marketing – für viele Firmen unbekanntes Terrain. Wer sollte sich denn überhaupt mit dem Thema beschäftigen?

Gina Hardebeck: Man kann es in drei Gruppen unterteilen: Erstens sind es Unternehmen mit Produktionsstandorten in China. Sie beschäftigen zumeist chinesische Marketingverantwortliche und Vertriebler, die die chinesischen Tools bereits nutzen. Die zweite Gruppe besteht aus Händlern – und zwar größtenteils aus den Bereichen Fashion sowie Haushalts- und Drogerieartikel –, die ihre Produkte über Cross-Border-E-Commerce in China verkaufen. Das können große, weltweit aktive Brands sein, die aber nicht überall mit eigenen Stores vor Ort sind. Die dritte Gruppe sind Unternehmen, die chinesische Touristen ansprechen wollen. Abgesehen von einer gewaltigen Delle während der Coronakrise hat deren Anzahl in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Wir sprechen also hauptsächlich von Händlern mit Shops in den Fußgängerzonen beziehungsweise von Hoteliers und Gastronomen.

Geht die Entwicklung in Richtung Individualtourismus? Bei geführten Reisegruppen ist es wegen fester Engagements schwierig, Kunden in den Laden zu locken.

Absolut. Aktuell sieht man beides. Bei den Gruppenreisen handelt es sich häufig um ältere Menschen und solche aus Second- und Third-Tier-Cities in China. Das sind mehrere Dutzend Städte zweiter und dritter Kategorien im Land. Gleichzeitig haben wir eine starke Zunahme bei Individualreisenden. Anders als bei Gruppenreisen hat man bei ihnen als Brand die Chance, auf sich aufmerksam zu machen.

„Baidu, Alibaba und Tencent haben die GAFA in vielen Bereichen überholt“

Gina Hardebeck

Im „Westen“ spricht man von GAFA für Google, Amazon, Facebook und Apple, in China von BAT – gemeint sind Baidu, Alibaba und Tencent. Es scheint, als würden sich hier wie dort eine Handvoll Tech-Giganten den Markt untereinander aufteilen. Was sind die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Märkte?

In China hat sich eine eigene digitale Landschaft entwickelt. Unter anderem weil der chinesische Markt weitgehend von der Regierung abgeschottet wird. Facebook und Twitter sind beispielsweise nicht nutzbar. In diesem Vakuum konnten sich chinesische Dienste relativ konkurrenzfrei entwickeln. Zu Beginn waren es häufig reine Copycats. Danach erfolgte aber eine unglaublich schnelle Lernkurve. Heute haben sie die GAFA in vielen Bereichen überholt, da sie enorm innovativ sind und per Trial and Error viele neue Dinge ausprobieren. Es herrscht eine hohe Dynamik.

Die Plattformen der GAFA haben häufig eine Monopolstellung in ihrem speziellen Segment. Ist das in China ähnlich?

Bei den BAT beherrscht ebenfalls jeder seinen Bereich: Baidu ist die führende Suchmaschine. Allerdings werden auch immer mehr Suchanfragen in WeChat getätigt. Alibaba und Tencent haben unterschiedliche Richtungen eingeschlagen. Alibaba geht erstens in Richtung E-Commerce mit vielen hochwertigen Plattformen, zweitens in den Paymentbereich mit Alipay als Bezahllösung und drittens in Richtung Cloud-Dienste. Tencent hat – vor allem mit WeChat – den Fokus auf Kommunikations- und Marketingtools sowie den Bereich Gaming gesetzt. Gleichzeitig sehen wir den Aufstieg zahlreicher Start-ups. Der bekannteste junge und mittlerweile weltweit verbreitete Player ist TikTok – in China als Douyin bekannt.

Alipay und WeChat Pay sind als Zahlungsmethoden in China weit verbreitet.
Nahezu jeder Händler in China akzeptiert Alipay und WeChat Pay als Zahlungsmethoden.

Wie steht es um die Verbreitung der Dienste außerhalb Chinas?

Tencent konzentriert sich ganz klar auf China und Südost-Asien – junge, digital affine Nationen mit einem großen Wirtschaftswachstum. Danach kommt Afrika und dann erst Europa. Alibaba hat auf dem deutschen Markt gefühlt etwas mehr Drive als Tencent und versucht mit Payment und Cloud-Diensten einen Fuß in die Tür zu bekommen.

Welche Plattformen dürfen im Kanalmix nicht fehlen, wenn ich als Unternehmen Marketing in China betreiben möchte?

Händler, Hoteliers und Gastronomen dürfen die chinesischen Touristen nicht erst erreichen, wenn sie in Deutschland sind. Das ist viel zu spät. Städte und Regionen aus Deutschland müssen die Individualreisenden bereits vor der Reise auf dem Schirm haben. Daher sollten sich vor allem Unternehmen in kleineren Städten sowie die Verantwortlichen für das Stadtmarketing zusammentun. Um überhaupt wahrgenommen zu werden, ist WeChat das absolute Must-have-Tool. Der jeweilige Account einer Marke muss aktiv abonniert werden. Das erfordert bereits einiges an Aufwand. Hat man erst einmal Abonnenten gewonnen, kann man allerdings umfangreiche Informationen verbreiten, die sehr viel mehr sind als reine Newsletter oder Postings. Der Kreativität der Marketer sind keine Grenzen gesetzt.

Alipay ist neben seiner Zahlungsfunktion auch eine Marketing-App. Händler mit vielen chinesischen Kunden führen Alipay und WeChat Pay als Zahlsysteme ein. Bereits am Flughafen wird dem Touristen dank Geo-Tracking in der App angezeigt, in welchen Läden er dort mit Alipay zahlen kann. Wenn man innerhalb der Alipay-App noch ein Banner oder Couponaktionen schaltet, sprechen chinesische Touristen sehr gut darauf an.

Also bieten sich sehr gute Möglichkeiten für das Targeting.

Ja, generell ist der Umgang mit Daten etwas freier. Daher funktioniert zielgerichtete Werbung relativ gut.

Worauf muss man beim Markenaufbau in China besonders achten?

Das Wichtigste ist ein ernsthaftes Commitment. Nur wenn der chinesische Markt wirklich relevant für mich ist oder es in Zukunft wird, sollte ich es angehen – dann aber zu 100 Prozent. Der chinesische Markt ist riesig und komplex. Er hat eine andere Kultur, eine andere Sprache, digitalere, jüngere User. Einfach mal ausprobieren und Me-too-Kampagnen fahren, funktioniert nicht. Diese Entscheidung kann nicht allein im Bereich Marketing und Kommunikation gefällt werden, sondern muss die volle Rückendeckung der Geschäftsführung haben. Für China braucht man einen langen Atem.

Was heißt das konkret?

Man benötigt mindestens drei Jahre, um sich zu etablieren. Dabei muss man immer in Interaktionen, Verknüpfungen und Verlinkungen denken. Das setzt voraus, dass man sich mit der digitalen Landschaft gut auskennt. Ich wurde regelmäßig von Unternehmen angesprochen, die ihre Produkte bereits auf Tmall.com anbieten und nun einen WeChat-Account eröffnen wollen, um auf ihren Tmall-Shop zu verlinken. Doch das funktioniert leider nicht. Aus dem Tencent-Universum, zu dem WeChat gehört, kann man nicht einfach auf eine Alibaba-Plattform wie Tmall verlinken. Diese beiden Welten sind strikt voneinander getrennt und stehen in starker Konkurrenz zueinander. Strategisch ist es also sinnvoller, von vornherein WeChat und die Verkaufsplattform JD.com – beides Tencent – zu kombinieren.

„Sich in die Zielgruppen hineinzuversetzen, ohne jemals in China gelebt zu haben, ist sehr schwierig“

Gina Hardebeck

Sie haben bereits Unterschiede in den Mechanismen der Plattformen genannt. Wie schwer ist es für europäische Marketer, auf dem chinesischen Markt erfolgreich zu sein?

Jemand, der hier im digitalen Marketing bereits viele Erfahrungen hat, kann sich mit etwas Zeit gut in die chinesischen Plattformen einarbeiten. Deutlich schwieriger ist es, sich mit den Zielgruppen auseinanderzusetzen. Hier fehlt häufig das Wissen. Ein Beispiel: Die Gruppe mit der größten Kaufkraft sind 25- bis 35-Jährige. Das sind diejenigen, die Lamborghinis kaufen, bei Chanel shoppen und sich einen Bio-Müsli-Riegel aus Deutschland bestellen. Sich in die Zielgruppen hineinzuversetzen, ohne jemals in China gelebt zu haben, ist sehr schwierig.

Gibt es Maßnahmen, die bei uns funktionieren und in China nicht?

E-Mail-Marketing ist in China tot. WeChat hat E-Mails auch im Berufsleben fast vollständig abgelöst.

Und was funktioniert dort besser?

Influencer-Marketing. Das Vertrauen in KOL (Key Opinion Leader = Meinungsführer; Anm. d. Red.) und Influencer ist in China noch deutlich höher als bei uns. Natürlich wissen chinesische Konsumenten, dass Influencer dafür bezahlt werden, Produkte vorzustellen. Aber sie vertrauen darauf, dass nur Produkte vorgestellt werden, die sie selbst gut finden. Influencer-Marketing ist jedoch sehr kostenintensiv und eher noch teurer als hier.


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