Seit der Flutkatastrophe am 14. Juli im Ahrtal in Rheinland-Pfalz ist für viele Menschen nichts mehr, wie es einmal war. Auch medial: Neue „Sender“ berichten täglich aus dem Katastrophengebiet. Sie nutzen dafür Facebook Live. Ein Lehrstück über das Live-Format von Marcus Schwarze.

Lohnunternehmer Wipperfürth ist ein Phänomen

Allein 466.000 Abonnenten zählt das „Lohnunternehmen Markus Wipperfürth“ auf seinem Facebook-Kanal. Wenn der Landwirt mit seinem Handy mehrmals am Tag live geht, zählt er häufig umgehend an die 10.000 Zuschauer*innen. Hinzu kommen regelmäßig mehrere Zehntausende zeitversetzte Abrufe. Sein stärkstes Video zählte 4,7 Millionen Abrufe. Unzählige Kommentare steuern die Nutzer*innen bei, meist gehen die Aufnahmen viral, werden hundert- und tausendfach geteilt. 

„Schön, dass Du da bist!“

Das Konzept ist so trivial wie genial: „Was macht ihr hier gerade?“ fragt Wipperfürth dann eine Helferin vormittags beim Helfer-Shuttle, nachdem er sich zuvor das Einverständnis zum Filmen geholt hat. „Das Land Rheinland-Pfalz hat veranlasst, dass die Heizungen durchgeschaut werden“, berichtet die Helferin, Wipperfürth filmt ihren Fragebogen. „Wir gehen von Tür zu Tür und schauen nach: Wer hat Bedarf, wer braucht eine Heizung, wer braucht Reparaturen, wer braucht was Provisorisches?“„Mega. Hammer!“ lobt der Unternehmer und erklärt seinen Zuschauenden: „Also, die werden hier gerade eingewiesen. Das sind alles Freiwillige und die kriegen hier gerade die Einweisung. Hammer, oder? Wir hören einfach mal ein bisschen zu.“ „Schön, dass Du da bist“, sagt eine Frau in gelber Warnweste“, „schön dass ihr hier seid“, erwidert der Landwirt. Und schon fliegen dem Facebook-Account neue Herzen und Umarmungen zu, eine Frau kommentiert: „Ich kriege immer Gänsehaut, wenn ich durch eure Videos mitbekomme, wie viel Hilfe durch freiwillige Helfer gegeben wird! “ 

Wipperfürth streamt live auf Facebook, wie ihm jemand einen Spiegel als Dankeschön überreicht.

Bei den Videos von Wipperfürth wirkt nichts gestellt, alles improvisiert. Die Kamera wackelt, der Ton kann schon mal vom Gewummer schwerer Maschinen übertönt werden. „Wippi TV“ haben Facebooknutzer seinen Kanal getauft. Seit Beginn der Aufbauarbeiten vor sieben Wochen hat er immer wieder live gefilmt. T-Shirts mit Aufdrucken wie „Zusammenheld“ und „Eimerkette Sommer 2021“ verkauft er mittlerweile im Facebook-Shop. Seine abgewetzte Käppi versteigerte er bei Ebay für mehr als 80.350 Euro (wenngleich es dabei Probleme mit Spaßgeboten gab und er notgedrungen noch später die Käppi trug). 

Die abgewetzte Arbeitskappe von Wipperfürth sollte für 80.350 Euro bei Ebay versteigert werden. Allerdings gab es Probleme mit Spaßgeboten. (Foto/Screenshot: Ebay)

Der Vorwurf: „Selbstdarsteller“

Als er kürzlich für seine Filmerei vor laufender Kamera von einem Helfer angemacht wurde („Selbstdarsteller“, lautete der Vorwurf), wurde der 48-Jährige deutlich. Unzählige Spenden hat er durch seine Arbeit hereingeholt, auf dem Facebook-Kanal läuft inzwischen auch Werbung. Und dass er nicht mehr so stark wie zu Beginn anpacken kann, liegt an einem Nabelbruch. Die beiden Männer haben sich dann ohne laufende Kamera ausgesprochen, wie der Landwirt anschließend berichtete.

Die Emotionen kochen häufiger hoch. Anfangs half Wipperfürth wie viele weitere Landwirte aus dem ganzen Bundesgebiet, mit Traktoren, Baggern und Schaufeln Schutt, Müll und Schlamm aus dem Weg zu räumen. Viel Verärgerung entspann sich dabei über die Behörden, insbesondere die Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD). Aus Sicht vieler Helfer koordinierte sie zu wenig, war nicht sichtbar genug. Eine täglich bei YouTube gestreamte Pressekonferenz von Polizei, ADD und anderen Behörden versprühte oft so viel Dynamik wie eine Eiche, während bei Wippi TV ein Helfertrupp einen platten Reifen vom Laster wuchtete. 

Ein Helfer aus Ostfriesland bringt Schuhwerk bis Größe 50, will 24 Stunden am Stück arbeiten. Bei allem Leid in der Region bleibt Zeit für manchen Flachs, und dann: „Nicht lang schnacken, anpacken!“ (Foto/Screenshot Facebook: Wipperfürth)

Das stärkste Video bei Wippi TV von Tag 4 der Hilfsaktionen über Defizite der Behördenkoordination zählte 4,7 Millionen Abrufe; eines von Tag 6, wo Sicherheitsschuhe im großen Stil angeliefert wurden, 3,4 Millionen Abrufe. Als „De Schwatten Ostfrees Jung“ an Tag 7 eintraf, ein kräftiger Mann wie aus dem A-Team, mit Oberarmen wie Stahlträgern und umgehängten Silberketten von bestimmt vier Pfund Gewicht, gab es 2 Millionen Abrufe.

Aufräumarbeiten im Ahrtal. Immer wieder zeigt Wipperfürth die Arbeit mit großen Maschinen. (Foto/Screenshot Facebook: Wipperfürth)

Hau-Ruck-Aktion für Rollstuhlfahrer

Den vermutlich größten Respekt holten sich die Helfer nach einem Helferfest, das Betroffene der Katastrophe zum Dank für die Handwerker*innen veranstalteten. Man saß gemütlich bei Bratwurst und Bier zusammen, erzählte sich seine Geschichten – als plötzlich die Nachricht die Runde machte, in einem Haus ein paar Straßen weiter wäre ein älterer Herr im Rollstuhl nach fünf Wochen zurückgekehrt. Mit nur einem helfenden Pärchen war der Mann angesichts von Schlammmassen und Zerstörung in seinem Fachwerkhaus völlig überfordert. 

Also ließen die Landwirte Bier und Bratwurst liegen, starteten ihre Traktoren, schnappten sich Eimer und Schaufeln, und kurz darauf entkernten an die 70 Helfende das Gebäude. Jemand besorgte Strom, ein anderer Licht, über Facebook fragte Wipperfürth nach Spenden wegen des defekten Elektrorollstuhls des Herrn. Drei Angebote gingen direkt live ein, am nächsten Tag saß der Mann bereits im neuen roten E-Roller. Nur einmal war es ganz still geworden während der Aufräumarbeiten in seinem Haus. Da hatte jemand einen süßlichen Geruch vernommen – und die anderen vor einem möglicherweise schrecklichen Fund gewarnt. Es war dann glücklicherweise doch nur der Inhalt einer Tiefkühltruhe. „Am besten gehst Du schnell rein, damit Du siehst, was das Krasse heute Abend ist“, sagte der Landwirt einem Journalisten, hörbar ergriffen. Wie ohnehin der zupackende Landwirt immer wieder auch seinen Gefühlen angesichts der Katastrophe Raum lässt und Ergriffenheit vermittelt, etwa als ein Trompeter in der unglaublichen Kraterlandschaft des Tals zwei Melodien posaunt. Das Leid der Menschen lässt die hartgesottenen Helfer nicht kalt.

Auch andere nutzen das Format

Diese und andere Geschichten zeigt nicht nur Wipperfürth (seit Kurzem auch auf Youtube). „Azubi Wilhelm Hartmann“ geht ebenfalls häufig live auf Facebook, ebenso Bauunternehmer Marcus Zintel. Auch TV-Moderator Dieter Könnes hat das Live-Format für sich entdeckt.

Der Journalist und Blogger Hardy Prothmann ist eigens aus Mannheim angereist, um in seinem Rheinneckarblog aus dem Krisengebiet zu berichten. Der Profi räumt freimütig ein, von Wipperfürth viel gelernt zu haben. Wie funktioniert „Live“? „Du kannst die ganze Zeit Dein Handy laufen lassen, Du musst nur mit den Leuten reden“, sagt Wipperfürth, während er von einer improvisierten Schmiede berichtet, in der Meißel fürs Ahrtal hergestellt werden.

Journalist Hardy Prothmann vom Rheinneckarblog spricht per Facebook Live aus dem fernen Mannheim mit Betroffenen, Helfenden und Beobachtern der Hilfsaktionen im Flutgebiet, schaltet immer wieder Leute hinzu.

Journalist Prothmann macht nicht nur vor Ort, sondern inzwischen auch aus der Ferne von Mannheim aus abends Liveschalten mit Zuschauenden, holt sie zu sich in die Sendung. Als jetzt Wipperfürth live dabei war, schnellte die Zahl der Live-Zuschauenden auf konstant 4000 bis 5000 Leute hoch. Nach Art der früheren Talk-Radio-Sendung Domian spricht der Journalist mit seinen Zuschauenden, bezieht Textkommentare mit ein und legt dabei stets Wert auf hohe journalistische Ansprüche.

Als er kürzlich die ADD wegen ihrer angeblich ungenügenden Öffentlichkeitsarbeit auf ihrer Website heftig kritisierte, folgte am nächsten Tag eine transparente Rücknahme eines Teils der Vorwürfe: Prothmann war schlicht die extra eingerichtete Website der ADD speziell zum Hochwasser entgangen. Seine kritische Haltung gegenüber den Behörden legt er indes nicht ab – und bringt das teils deftig auf den Punkt. Gerichtet an den Landrat von Bad Neuenahr-Ahrweiler, sagte er zum Beispiel: „Pföhler, schleich Dich! Hau ab! Keiner will dich mehr. Vorbei, Ende, Aus! Du hast es total – Entschuldigung – verkackt.“ Eine Deutlichkeit, für die er von seinen Zuschauenden viel Zustimmung erntete.

Learnings für Marketing- und Kommunikationsverantwortliche

Was lernt am Ende ein PR-Mensch oder ein*e Social-Media-Manager*in aus den Videos?

Das Facebook-Live-Format kann wuchtig genug sein, um Hunderttausende Menschen zu erreichen. Es funktioniert, wenn das Thema groß genug ist und einem vor dem Handy zu Füßen liegt, auch ohne große Vorbereitung – spontan, mit Herz und Persönlichkeit. Und selbst aus der Ferne kann ein Talkformat wie beim Rheinneckarblog eine eigene Kraft und Community entwickeln. Da darf auch schon mal die Kamera wackeln und die Gesprächsführung springen, wenn neue Teilnehmer*innen andere Themen beisteuern.

Eine starke Persönlichkeit kann über Tage und Wochen hinweg immer wieder durch neue Livesendungen die Aufmerksamkeit halten und neue erzeugen – sei es durch Witz, Charme oder Haltung und auch, wenn gar nicht so viele Neues mehr geschieht.

Doch wie sollten Unternehmen Facebook Live nutzen? Hier finden sie einen praktischen Leitfaden. Die Online-Marketing-Agentur svaerm erklärt Eckpunkte einer Live-Videoberichterstattung am Beispiel einer Konsumgütermesse.


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