Immer mehr Kanäle, immer mehr Plattformen, immer mehr Fragen: Wie schaffen es Unternehmen, ihre Zielgruppen wirklich zu erreichen und für sie relevant zu bleiben? Die Anforderungen an Marken, um in der Aufmerksamkeitsökonomie noch durchzudringen, sind in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen.
Parallel dazu hat sich auch der Markt der Online-Marketing-Agenturen verändert. Was die Sache aber nicht einfacher macht, sondern auch zu neuen Formen der Beziehung zwischen Kunden und Agenturen geführt hat.
Dieser Gastbeitrag von Robin Heintze ist in der sechsten Ausgabe des Magazins Corporate Newsroom erschienen. Lesen Sie dort weitere Artikel und Interviews aus der Welt des Marketings und der Unternehmenskommunikation, z.B. über das Corporate-Influencer-Programm von OTTO oder Polizeistreifen im Netz.
Zunehmende Komplexität auf Kundenseite
Irgendwas ist immer. „New Normal“ heißt, sich ständig mit neuen Herausforderungen zu beschäftigen. Da muss noch nicht einmal eine Pandemie das Leben durcheinanderwirbeln. „Die Herausforderungen sind beliebig komplex“, sagt Mario Konrad. Er ist einer der Gründer von Ryzon, einem jungen Unternehmen, das High-Tech-Sportklamotten für Triathleten herstellt.
Als neuer Player auf einem hart umkämpften Markt und mit sprunghaften Wachstumsraten hat Ryzon immer wieder andere Aufgaben zu lösen. Ausverkaufte Lager, Nach-Order, Aufbau des Kunden-Service: „Es gibt immer mehrere Feuer, die gleichzeitig brennen“, sagt Mario Konrad. Weil aber die Kapazitäten nur für eine begrenzte Anzahl von Feuern reicht, schätzt er die Unterstützung durch Agenturen.
„Es ist sehr wertvoll, schnell starten zu können und zu wissen, dass man möglichst wenige Fehler macht.“
Mario Konrad, Ryzon
Die eigenen operativen Aufgaben nehmen genug Raum ein, daher ist Konrad dankbar für die Expertise. „Beim iOS-Update hat uns die Einordnung externer Experten mit dem Ohr im Gesamtmarkt sehr geholfen.“ Für Paid Social und Search arbeitet Ryzon mit Agenturen zusammen.
Kreative Kompetenz bringt Mitgründer Fabian Jung mit, der unter anderem bei der Agentur DDB als Art Director gearbeitet hat. Zu den internen Herausforderungen, vor denen jedes Unternehmen steht, gesellen sich die externen Veränderungen. Die Veränderungen auf der Apple-Plattform etwa haben das komplette Performance-Marketing durcheinandergewirbelt – plötzlich ist ein großer Teil der Zielgruppen nur noch erreichbar, wenn er dem Tracking zustimmt.
Eine andere Baustelle ist die große Auswahl an Kommunikationskanälen. LinkedIn, Snapchat, TikTok? Die Zeiten, in denen ein Unternehmen seinen TV-Spot einfach auf YouTube hochladen konnte, sind längst vorbei. Jeder Kanal hat seine eigenen Gesetze und braucht seine eigene Strategie. Entsprechend groß ist die Auswahl an Expert*innen.
Fragmentierte Agentur-Landschaft
Schon die simple Frage „Was macht eigentlich eine Online-Agentur?“ kann aufs Glatteis führen. Die Aufgabengebiete sind so vielseitig, dass sich sowohl SEO-Agenturen als auch Webdesigner*innen oder Content-Marketing-Agenturen unter dem Schlagwort Online-Marketing wiederfinden. Die Agentur-Landschaft ist maximal fragmentiert, für jede Herausforderung findet man eine Spezialagentur. Gleichzeitig ist bei Kund*innen der Wunsch nach einer „Single Source of Truth“ groß, einer Full-Service-Agentur, die alles bietet.
Oliver Klein, Inhaber und Gründer der Pitchberatung Cherrypicker, ist bei dem Full-Service-Versprechen skeptisch. Er ist davon überzeugt, dass man in der heutigen Zeit nicht mehr alles können und zugleich „best in class“ sein kann. „Wenn eine Agentur heute behauptet, sie leiste ‚Full Service‘, erzählt sie ein Märchen.”
„Einen echten Full Service aus Kundenperspektive kann es nicht mehr geben. Dazu sind die Möglichkeiten der Kommunikation viel zu komplex geworden.“
Oliver Klein, Cherrypicker
Stattdessen rät Klein Agenturen dazu, sich wie ein Architekt für die Kommunikation aufzustellen, wenn sie eine möglichst übergreifende Beratung anbieten möchten: „Statt jedes Gewerk inhouse zu haben, müssen sie in der Lage sein, ein erfolgversprechendes Konzept unter Berücksichtigung aller Optionen aus Unternehmenssicht zu entwickeln.“
Cherrypicker hat dafür den Begriff „Full Thinking“ anstelle von „Full Service“ geprägt. Eine andere Alternative für Agenturen ist es aus seiner Sicht, sich auf eine Kernkompetenz zu fokussieren und zum Spezialisten zu werden. Das kann eine Kommunikationsdisziplin sein, eine Branche oder ein Kanal.
Agentursteuerung
Ob sich ein Unternehmen nun dafür entscheidet, eine Agentur mit der gesamten Architektur der Kommunikation zu beauftragen, wie das Oliver Klein von Cherrypicker empfiehlt, oder selbst verschiedene Spezialist*innen beauftragt: Vertrauen ist die Voraussetzung. „Bekomme ich bedarfsgerecht das, was ich brauche, oder bekomme ich etwas aufgeschwatzt“, bringt es Christian Uhl auf den Punkt. Er ist Head of Communication bei der Mannheimer Pepperl+Fuchs SE und ein Freund langfristiger Agenturbeziehungen. „Es ist viel wert, wenn man weiß, wie man gegenseitig tickt“, so seine Beobachtung.
Eine gute Agentur ist mit technischen Neuerungen vertraut, kann Veränderungen im Markt einschätzen und übernimmt somit die ständige Weiterbildung der jeweiligen Expert*innen. „Die Agentur ist für uns der Garantiegeber, dass wir jede Neuerung im Marketing frühzeitig mitbekommen und berücksichtigen können“, so Uhl.
„Als Unternehmen kann man mit all den Entwicklungen im Online-Marketing nur schwer Schritthalten. Oder man müsste ein bis zwei Personen anstellen, die sich ständig damit beschäftigen, ihr Know-how auf dem aktuellen Stand zu halten.“
Christian Uhl, Pepperl+Fuchs SE
Bei Unternehmen, die mit ihrer Agenturbeziehung zufrieden sind, fällt immer wieder der Begriff des Sparringspartners. In den Marketing-Abteilungen sind mehr Kompetenzen inhouse nötig – auch wenn man der Agentur vertraut und sie die Architektur übernimmt.
„Die Ansprüche an Marketer sind heute dreimal so hoch wie früher“, schätzt Berater Michael Rizza. Er unterstützt Unternehmen dabei, digitale Prozesse umzusetzen und sieht einen klaren Wandel zu mehr Augenhöhe im Verhältnis von Agenturen und ihren Kund*innen, weil sich im Idealfall auch auf Unternehmensseite die Expertise des Marketings im digitalen Zeitalter deutlich entwickelt hat. „Agenturen sind heute nicht mehr die Heilsbringer, denen Unternehmen umso mehr vertrauen, je mehr Buzzwords sie benutzen, die niemand versteht. Sie sind ebenbürtige Partner.“
Deshalb kann es sich auch lohnen, langfristige Beziehungen zu Agenturen zu pflegen. Pitchberater Oliver Klein nennt drei Punkte, über die sich Unternehmen klar werden sollten:
„Erstens, dass Agenturen eine wichtige Rolle für sie spielen, zweitens, dass diese Agenturen auch nicht beliebig austauschbar sind, und drittens, wie viele Agenturen wirklich sinnvoll und steuerbar sind.“ Beim Wechsel einer Agentur kann es seiner Beobachtung nach ein halbes bis ganzes Jahr dauern, bis alles rund läuft.
Aus diesem Grund haben wir bei morefire auch schon mehrmals Unternehmen, die bei uns angefragt haben, von einem Agenturwechsel abgeraten. Wenn die Kampagnen bisher sehr erfolgreich laufen und die Agentur einen fachlich guten Job gemacht hat, dann ist ein kompletter Wechsel oft nicht die beste Lösung für die Kund*innen.
Frische Impulse, eine zweite Meinung oder eine Optimierung der Abläufe und Kommunikation können auch auf anderen Wegen erfolgen. Wir gehen dann lieber als ergänzender Sparringspartner mit an Bord, als Partner auf Augenhöhe mit der bestehenden Agentur und dem Kunden. Dieser Vorschlag stößt bei Kund*innen im ersten Moment zwar oft auf Verwunderung, spart dort aber viele Ressourcen, reduziert das Risiko eines Wechsels und sorgt dafür, dass gut laufende Prozesse einfach weiter gehen.
Trotzdem heißt langfristige Zusammenarbeit heute etwas anderes als noch vor einigen Jahren.
„Diese langen Verträge, auf die Agenturen früher aus waren und die dann einfach abgearbeitet wurden, spielen heute keine so große Rolle mehr.“
Michael Rizza, Berater zur Umsetzung digitaler Prozesse
Michael Rizza spricht stattdessen von „fading in“ und „fading out“. In bestimmten Situationen, zu einzelnen Projekten klinken sich Agenturen ein und unterstützen und werden zum „Enabler“. Sie befähigen also ihre Kund*innen, das zu tun, was sie voranbringt, und bieten dazu ihre Expertise an.
So lief das auch bei dem Sportklamottenhersteller Ryzon. Mario Konrad schätzte die Geschwindigkeit, mit der das Unternehmen dank Agenturunterstützung im Online-Marketing loslegen konnte. Doch mit der Zeit wandelte sich das Verhältnis, die Kompetenzen wuchsen inhouse. „Die Agentur wurde zum Begleiter und technischen Support.“ Viele Daten über die Kund*innen und deren Lifetime-Value hat Ryzon selbst. Konrads Ziel lautet daher: „Zusammen mit der Agentur möglichst viel Wissen aufbauen.“
So kommen beide Seiten voran. Bei all der Beziehungspflege geht es schließlich auch um Businessziele – für Agentur und Kund*in. Mehr Kompetenz, Transparenz und Augenhöhe sind daher kein Selbstzweck, sondern liefern langfristig die besseren Ergebnisse.
Aktuelle Modelle der Online-Marketing-Agenturen im Überblick
Diese Aufzählung hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Trennschärfe. Es wird sicherlich Anbieter geben, die sich keinem oder auch mehreren dieser Kategorien zugehörig fühlen.
Full-Service-Internetagenturen
Von der Strategie über die Umsetzung von Webseiten bis hin zur Umsetzung der Kampagnen wird alles angeboten.
Performance-Marketing-Agenturen
Die Planung und Umsetzung von Online-Marketing-Kampagnen mit dem Fokus auf datengetriebene, performanceorientierte Maßnahmen.
Spezialagenturen
Anbieter, die sich auf einen oder wenige Teilbereiche des Online-Marketings spezialisiert haben, wie z. B. Influencer- Marketing, SEO oder Amazon-Advertising.
Zusammenschluss von Freelancer*innen
Neben reinen „Einzelkämpfer*innen“ gibt es auch das Modell, bei dem sich mehrere Freelancer*innen unter einem gemeinsamen Markennamen zusammenschließen. Sie treten eher auf wie eine Agentur, bleiben aber im Innenverhältnis oft unabhängig.
Agenturnetzwerke
Hierbei gibt es verschiedene Varianten. Zum einen der rechtliche Zusammenschluss, bei dem Anteile die Besitzer*innen wechseln, oder eher lose, partnerschaftliche Netzwerke von Agenturen, die ihr Portfolio gegenseitig ergänzen.
Beratungen
Oft mit dem Schwerpunkt Strategie, gibt es auch im Bereich Online-Marketing-Anbieter, die „nur“ beraten, nicht aber die Umsetzung der Maßnahmen übernehmen.
Customized Agencies
Hierbei werden Agenturen „gebaut“, die genau auf die Bedürfnisse eines Konzerns zugeschnitten werden. Meist sind das aber keine reinen Online-Marketing-Projekte.
Inhouse-Agenturen
Unternehmen, die mehrere Länder, Shops oder Marken aus einem Standort heraus im Online-Marketing führen, bauen teilweise eigene Agenturen auf, die nur für sie arbeiten, aber unabhängiger agieren als reine Abteilungen.
Über die genannten Sorten von Anbietern hinaus gibt es noch weitere wichtige Formen im gesamten Agentur-Kosmos, die allerdings nicht den Schwerpunkt auf Online-Marketing-Kampagnen legen: Klassischen Werbe- und Mediaagenturen, die inzwischen auch einen relevanten Anteil ihres Geschäftes im digitalen Umfeld generieren bzw. eine enge Verzahnung von Kampagnen online und offline betreiben. Und auch reine Web- oder Internet-Agenturen, deren Fokus auf der technischen Realisierung von Webseiten, Shops oder komplexen digitalen Anwendungen liegt.
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